Bundeswehr im Klassenzimmer: „Es geht darum, Krieg führen zu können, um keinen führen zu müssen“
Informiert er nur, oder wirbt er schon? Einflussreiche Bildungsgewerkschaften lehnen Jugendoffiziere ab. An einer Realschule in Berlin überwiegen die guten Erfahrungen.
Berlin – Es ist 10.30 Uhr an einem Mittwoch kurz vor den Sommerferien. Die erste große Pause ist vorbei, die Schülerinnen und Schüler der Johann-Julius-Hecker-Schule in Marzahn-Hellersdorf gehen in ihre Klassenräume. Im Regal stehen Videofilme, „Das Hitler-Attentat“ und „Good Bye Lenin“. Wenige Tage vor der Zeugnisvergabe wird aber nicht wie gewohnt eine DVD eingelegt – es spricht ein außergewöhnlicher Gast.
„Guten Morgen! Ihr seht, heute steht jemand anderes vorne“, grüßt der Bundeswehrsoldat Mike Siebert mit fester Stimme. „Ich stehe heute als Jugendoffizier vor euch.“ Hauptmann Siebert, hellblaues Kurzarmhemd, sieht selbst noch jugendlich aus. Er ist 28 Jahre alt und wirkt so glatt rasiert, wie er jetzt vor der Tafel der Klasse 10.3 steht, noch ein wenig jünger.
Pistorius geht davon aus, dass „die Informationsarbeit der Bundeswehr stark gefragt bleibt“
Siebert schaut die Schüler mit wachen Augen an. Er beginnt sofort mit der gefährlichsten aller Aufgaben: „Was glaubt ihr“, fragt er, „wer schickt die Bundeswehr in einen Einsatz?“ Jeder im Raum möge kurz in sich gehen, schließlich handele es sich um eine „schwerwiegende Entscheidung“. Man könne verwundet werden oder – schlimmstenfalls – gar nicht mehr heimkehren. Die Mehrheit der 10.3 glaubt, dass der Verteidigungsminister zuständig ist. „Hört sich einfach am krassesten an“, sagt eine 15-jährige Schülerin. Sie liegt falsch. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, zwei ihrer Mitschüler haben das geahnt. „Wäre doch logisch“, findet einer, „wenn eine große Gruppe entscheidet.“
Jugendoffiziere sind Referenten für Sicherheitspolitik. „Sie informieren, klären auf und ordnen ein“, schreibt Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im jüngsten Jahresbericht. Und vor allem: „Sie geben keine vorgefertigten Meinungen vor, sondern unterstützen dabei, eigene Antworten zu finden.“ Im vergangenen Jahr informierten Jugendoffiziere bei 5.499 Veranstaltungen 158.149 zumeist jüngere Menschen über die Sicherheitslage in Deutschland. Pistorius geht angesichts des Ukraine-Krieges davon aus, dass „die Informationsarbeit der Bundeswehr auch in der kommenden Zeit stark gefragt bleibt“.
Die Bildungsgewerkschaft GEW kritisiert einen „zunehmenden Einfluss der Bundeswehr“ in Schulen
In der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) stößt das Modell auf Kritik. „Die GEW wendet sich entschieden gegen den zunehmenden Einfluss der Bundeswehr auf die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts“, teilt sie mit. „Die politische Bildung – auch in Fragen der Sicherheitspolitik – gehört in die Hand der dafür ausgebildeten pädagogischen Fachleute und nicht in die von Jugendoffizieren.“
Jugendoffiziere kommen nur auf Anfrage in Schulen. Er habe große Freude an der Aufgabe, erzählt Hauptmann Siebert im Vorgespräch mit dieser Redaktion. „Man hat die Möglichkeit, mit Jugendlichen und grundsätzlich mit der Gesellschaft ins Gespräch zu kommen – gerade in Zeiten von Desinformationen ist es wichtig, über kritische Fragen zu sprechen.“ Die Johann-Julius-Hecker-Schule arbeitet schon seit mehr als 25 Jahren erfolgreich mit Jugendoffizieren zusammen. „Ich fand das Konzept immer gut“, sagt Schulleiterin Jana Harwardt. „Wir haben hier schon Firmenabende mit der Bundeswehr gemacht, sie ist ja auch ein großer Arbeitgeber.“
Der Jugendoffizier setzt auf die Mündigkeit der Schülerinnen und Schüler
In den 1990er Jahren hat Harwardts heutiger Stellvertreter Detlef Wedde die Initiative ergriffen und das erste Mal einen Jugendoffizier in den Unterricht eingeladen. Wedde, 1963 in der DDR geboren, hatte zum Ende des Kalten Krieges als Grenzsoldat in der Nationalen Volksarmee (NVA) gedient. Seine persönlichen Erfahrungen als Wachtposten haben ihn tief geprägt, erzählt der Politiklehrer. „Befehl und Schikane“, so habe er die NVA erlebt. „Das hat mich später gepusht, den Schülern nach der Wende ein anderes Bild von der Armee zu vermitteln“, sagt er. „Im Kollegium haben wir oft über Jugendoffiziere gesprochen, mittlerweile steht hier jeder hinter der Zusammenarbeit.“
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Hauptmann Siebert setzt auf die Mündigkeit der Schülerinnen und Schüler. „Ganz wichtig“, betont er vor der Klasse 10.3: „Wir machen keine Personalwerbung. Ihr könnt die Bundeswehr gut finden, ihr könnt sie nicht so gut finden – das ist mir persönlich egal.“ Die Schüler könnten „jederzeit kritische Fragen stellen“.
Die CDU rät Schulleitern, ihre „ideologisch begründeten Berührungsängste“ abzulegen
Wo endet Information? Wo beginnt Werbung? Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges sollten Schulen in dieser Frage weniger zimperlich sein, findet die CDU-Verteidigungspolitikerin Kerstin Vieregge. „Es ist nicht hinnehmbar, dass es immer noch Schulleiter und Rektoren gibt, die ihren Schülern diese Form der politischen Bildung aus ideologisch begründeten Berührungsängsten vorenthalten“, sagt Vieregge in ihrem Abgeordnetenbüro. „Auch die deutsche Friedensbewegung hat scheinbar noch nicht verstanden, dass es unsere Soldaten und unsere Bundeswehr sind, die den Frieden sichern und für eben diesen einstehen.“
Nach seiner eigenen Motivation gefragt, schildert Siebert in Marzahn-Hellersdorf, wie ihn als Kind die Anschläge vom 11. September 2001 geprägt haben. „Das war eine große Zeitenwende“, sagt er. „Was haben die Twin Towers aber mit der Bundeswehr zu tun?“, erkundigt sich einer der Schüler. „Das ist genau die richtige Frage“, entgegnet Siebert: „Nach diesem Tag wurde erstmals der Nato-Artikel 5 ausgelöst.“ Jener Artikel 5 des Nordatlantikvertrags gewährleistet den gegenseitigen Schutz der Nato-Mitglieder.
Die Hauptbotschaft des Jugendoffiziers: „Sicherheitspolitik geht jeden an“
So begeistert Siebert das eine oder andere Mal rüberkommt, wenn er über Sicherheitspolitik spricht, so kritisch äußert er sich, wenn es um die Folgen von 9/11 geht. In Deutschland sei der Afghanistan-Einsatz sehr lange nicht als Krieg bezeichnet worden, sagt er. Aus Sicht der Soldaten wirkte das nicht immer glücklich. „Am Hindukusch sind Kameraden und Kameradinnen gestorben, auch von anderen Nationen.“ Wertschätzung erfahre die Bundeswehr eigentlich erst nach der jüngsten Zeitenwende, sagt Hauptmann Siebert, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Womöglich liegt es am aufgefrischten Grundgedanken der Streitkräfte: „Es geht darum, Krieg führen zu können, um keinen Krieg führen zu müssen.“
„Sicherheitspolitik geht jeden an.“ Diesen Satz hört man in dieser Stunde mehrfach von Siebert. „Fühlt ihr euch sicher, grundsätzlich in Deutschland?“, fragt er. In der 10.3 wird gegrübelt. „Ja, schon“, sagen die einen. „Teils, teils“, sagen andere. Den Ergebnissen einer kurzen Umfrage zufolge sorgen sich die Jugendlichen in der Realschulklasse vor allem vor Umweltverschmutzung, bewaffneten Konflikten und extremen Wetterereignissen.
Schulleiterin Harwardt und ihr Stellvertreter Wedde halten einiges von den jungen Leuten. „Sie sind ehrlich und stellen Fragen“, lobt Harwardt nach Schulschluss. Darin liege womöglich ein Unterschied zwischen Realschulen und Gymnasien, in denen das Klima viel leistungsorientierter sei und niemand durch kritische Zwischenrufe auffallen wolle. „Unsere Schülerinnen und Schüler sollen lernen zu reflektieren.“