Berlin. Aufklärung, Erotik und Humor: Dank einer neuen Werk-Edition sind die progressiven Romane und Dichtungen Wielands wieder zu lesen.
Es ist nicht übertrieben, ihn den „wahren“ deutschen Klassiker zu nennen. So manches spricht dafür. Die Rede ist von Christoph Martin Wieland. Dieser „ehrliche Schwabe“, wie er sich selbst nannte, ist der Verfasser des „Agathon“, sprich: des ersten, „klassischen“ Bildungsromans deutscher Sprache, ohne den eine ganze Romantradition gar nicht denkbar wäre, die von Goethes großem „Wilhelm Meister“ über Stifters „Nachsommer“ und Kellers „Der grüne Heinrich“ bis zu Thomas Manns „Zauberberg“, Grass‘ „Blechtrommel“ oder, um ein Beispiel jüngeren Datums zu nennen, noch zu Ingo Schulzes „Peter Holtz“ reicht – wobei sich die drei letzteren ihrer Ironie wegen mit Fug und Recht auch als Anti-Bildungsromane bezeichnen ließen. Hier jedenfalls stand jeweils – mehr oder weniger direkt – der frühe Romancier Wieland Pate, der selbst ein begnadeter Humorist war und einer modernsten, progressivsten Köpfe seiner Zeit.
Als einer der ersten deutschen Schriftsteller und prominenter Vertreter der Epoche der Aufklärung hatte er sich zudem den ästhetischen Idealen der Antike verschrieben, die maßgeblich waren für die Formen und Inhalte der seinerzeit noch in den Kinderschuhen steckenden Weimarer Klassik. Dem deutlich jüngeren Goethe hatte er den Zugang zur Antike erst ermöglicht. Beider Perspektiven auf selbige sollten freilich divergieren, was den Noch-Stürmer-und-Dränger dazu bewegte, eine Farce namens „Götter, Helden und Wieland“ zu Papier zu bringen, in welcher er den im Grunde zutiefst Bewunderten heftigst verspottete.
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Die Steilvorlage bot Wielands – heiter bis rührendes – Singspiel „Alceste“ und die Tatsache, dass er sich rühmte, damit die „Alkestis“ des Euripides quasi überboten zu haben. Goethe, dem die Natur im weitesten Sinne über alles ging, empfand das Werk, durchaus nachvollziehbar, als blutleer und antwortete mit naturverbundener, deftiger Derbheit, sein Antike-Begriff war archaischer – sollte aber bekanntlich sukzessive zahmer werden, tatsächlich erscheint uns heute die Alceste als Vorläuferin seiner Iphigenie. Wieland wiederum, der in der etwas holzschnittartigen Attacke stellvertretend für die Narrenkappe eine Nachtmütze aufgesetzt bekommt, besaß die Größe, Goethe nicht nur zu verzeihen, sondern die Spottschrift als „ein Meisterstück von Persiflage und sophistischem Witze“ zu loben.
Neben Goethe, Schiller und Herder war er der vierte Weimarer Klassiker und der älteste im Bunde. Geboren 1733 in Oberholzheim (und 1813 in Weimar gestorben) lebte er bereits in dem kleinen Städtchen an der Ilm, bevor es die anderen dorthin zog. Kultur wurde in der thüringischen Provinz großgeschrieben, dank der Herzogin (und Komponistin) Anna Amalia, deren Ansinnen es war, einen „Musenhof“ zu unterhalten. Auch hier wirkte Wieland, der mit der Erziehung ihrer Söhne, namentlich dem späteren Fürsten und Goethe-Freund Carl August, betraut wurde, wegbereitend – und Jahrzehnte blieb er später Goethe freundschaftlich verbunden.
Von Haus aus war er Aufklärer, Freigeist und Libertin, tatsächlich ist er einem Diderot oder einem Voltaire sehr ähnlich. In Frankreich, von woher die radikale Aufklärung nach Deutschland schwappte – die subversive „Encyclopédie“ wurde genauso rezipiert wie die materialistischen Schriften eines La Mettrie oder Helvétius –, war der Libertinismus nahezu mit Pornografie gleichzusetzen – und diese wirkte, historisch gesehen, revolutionär. Pornografisch sind nun Wielands Werke nicht, aber doch einige von ihnen überaus erotisch. In den Augen vieler Zeitgenossen galten sie mithin als unanständig anstößig. Auf eine solch prüde, aus religiösen Moralvorstellungen resultierende Haltung – Stichwort: Pietismus –, zielen seine „Comischen Erzählungen“ von 1765, bei denen es sich um freizügige, obszöne und nicht zuletzt meisterhafte Versdichtungen handelt, die die Enttabuisierung von Sexualität, auch der weiblichen und selbst der gleichgeschlechtlichen, intendieren. Vorbilder sind Ovid und Lukian und naturgemäß beschwört Wieland in ihnen die antike Götterwelt herauf, für die Moral eher ein Fremdwort war.
Wäre sie weniger umfangreich geraten, hätte auch seine märchenhafte und humoristische Dichtung „Idris“ Teil der „Comischen Erzählungen“ sein können, sie fügt sich nahtlos ins Konzept. Hier geht es um die fantastischen Abenteuer des gleichnamigen Ritters, der qua Beischlaf seine versteinerte Geliebte Zenide erlösen soll, und seinen Gegenspieler Itifall, eine Art Sex-Maniac.
Ja, was zu weit geht, geht zu weit. Zumindest dachten sich das wohl die empfindsamen und deutschtümelnden Dichter des Göttinger Hainbunds, darunter der Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß, die sich nicht entblödeten, aus Anlass eines Geburtstags des von ihnen kultisch verehrten Klopstock eine Bücherverbrennung zu veranstalten und – aus Mangel einer Ausgabe der „Comischen Erzählungen“, die, warum nur?, längst vergriffen waren – ein „Idris“-Exemplar den Flammen übergaben. Das Frivole lag den konservativen Spießbürgern nicht, möglich, dass sie auch der skeptisch-aufklärerische Impetus verstörte, und was ihnen gar nicht schmeckte, war die Ironisierung und Dekonstruktion des männlichen Helden – wie Wieland sie auch in seinem den „Don Quijote“ adaptierenden Roman „Don Sylvio von Rosalva“ betrieb. Das Fass zum Überlaufen aber brachte sein fortschrittliches Frauenbild, denn seine Feen und Prinzessinnen wissen, was sie wollen, handeln selbstbestimmt und konterkarieren so gängige, heteronormative Rollenvorstellungen. Was für ein Skandal! Und kein Wunder, dass Wieland im Laufe des genierlich-spröden, ja, verklemmten 19. Jahrhunderts tendenziell in Vergessenheit geriet.
Ihn zu lesen aber lohnt sich ungemein. Und dank der derzeit im Wallstein Verlag entstehenden Studienausgabe in Einzelbänden ist das auch wieder möglich. „Idris“ ist gerade erschienen, die „Comischen Erzählungen“, „Don Sylvio“ und „Aristipp“ liegen bereits vor und demnächst folgt mit „Die Geschichte des Agathon“ ebenjener Roman, ohne den unsere Vorstellung dieser Gattung womöglich eine ganz andere wäre.
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Christoph Martin Wieland: Idris. Ein Heroisch-comisches Gedicht, Wallstein, Göttingen 2024, 229 Seiten, 34 Euro; Comische Erzählungen, Wallstein, Göttingen 2023, 220 Seiten, 28 Euro; Don Sylvio von Rosalva, Wallstein, Göttingen 2023, 472 Seiten, 42 Euro; Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, Wallstein, Göttingen 2022, 984 Seiten, 48 Euro.