Das späte Glück der Ann-Katrin Berger
Elfmeterheldin Ann-Katrin Berger hat zwei Krebserkrankungen überstehen und fast 34 Jahre alt werden müssen, um im deutschen Nationalteam besondere Momente zu erleben.
Die feuerroten Handschuhe an den ausgebreiteten Armen wiesen den kreischenden Mitspielerinnen den Weg: Als Ann-Katrin Berger sich nach zwei parierten Elfmetern auch noch als erfolgreiche Schützin beim Viertelfinal-Drama gegen den Tokio-Olympiasieger Kanada (4:2 im Elfmeterschießen) betätigt hatte, konnte es nur die marineblaue Anlaufstelle für die Jubeltraube deutscher Fußballerinnen geben. Selbst zur Ausführung anzutreten, war für die 33-Jährige zwar gewissermaßen neu, aber: „Es war ein cooles Gefühl.“ Danach war Zeit für Späße. Bundestrainer Horst Hrubesch habe sie „zur Schnecke gemacht, warum ich nicht noch den dritten Elfmeter gehalten habe“. Da rollte der fast abgewehrte Ball doch noch über die Linie. Danach trat sie eben selbst an.
Laut Hrubesch kein Problem: „Der Manuel Neuer hat auch schon mal schießen müssen.“ Die gebürtige Göppingerin legte dabei so lässig den Ball über die Linie wie einst das Kopfball-Ungeheuer als letzter Schütze im WM-Halbfinale 1982 gegen Frankreich. „Ich glaube, unter Druck arbeite ich besser als ohne Druck“, beteuerte Berger. Hrubesch war das Wagnis eingegangen, Merle Frohms für Olympia den Status als Stammtorhüterin zu entziehen. Der 73-Jährige hatte früh erkannt, dass Bergers besondere Aura für seine finale Mission hilfreich sein könnte.
Das Halbfinale gegen die USA ist für die Torhüterin ein besonderes Spiel
Spät, aber nicht zu spät, mit fast 34, genießt die dreimal bei der Wahl zur Welttorhüterin unter die Top Drei gekommene Berger auch höchste Wertschätzung im Nationalteam. Was für eine zweimal mit der Schockdiagnose Schilddrüsenkrebs konfrontierte Sportlerin nicht selbstverständlich ist. 2017 wurde sie deswegen das erste Mal operiert, 2022 kehrte ausgerechnet während der EM in ihrer Wahlheimat England die Krankheit zurück. Nun ist diese Stehauffrau auf einmal Hoffnungsträgerin fürs Halbfinale gegen die USA in Lyon (Dienstag 18 Uhr/ARD und Eurosport). Eine Medaille in den Händen zu halten, wäre für sie märchenhaft.
Jetzt macht es natürlich schon Sinn, ins Finale zu kommen.
„Ich hätte niemals gedacht, dass ich hier spielen werde. Jetzt, wo wir so weit gekommen sind, macht es natürlich schon Sinn, ins Finale zu kommen“, sagte Berger, wohl wissend, dass sich die Fehler aus der Vorrundenpartie (1:4) nicht wiederholen dürfen. Insbesondere die erneute Begegnung mit der US-Nationaltrainerin Emma Hayes ist für sie besonders.
Als Teammanagerin des FC Chelsea adelte die Engländerin die Deutsche im Frühjahr 2023 nach einem gewonnenen Elfmeterschießen in der Champions League für diese Spezialdisziplin noch als stärkste Keeperin, „mit der ich je zusammengearbeitet habe“. Doch bald darauf kam es zum Bruch der Charakterköpfe: Der Wechsel im April dieses Jahres zu New Jersey/ New York Gotham FC war der letzte Ausweg, weil Berger in London nur noch auf der Tribüne saß. In der US-Profiliga genoss sie vom ersten Tag höchste Anerkennung.
Vielleicht war alles Schicksal für Ann-Katrin Berger
Vielleicht war es Schicksal, was in den letzten EM-Qualifikationsspielen nach der Sommerpause passierte: Während Frohms bei der Blamage gegen Island (0:3) patzte, bereitete Berger bei der Generalprobe gegen Österreich (4:0) zwei Tore vor. Danach erzählte sie in Hannover: „Vieles kommt durch das Selbstvertrauen, das ich in Amerika bekommen habe. Dort ist alles noch viel schneller, ich musste mein Spiel komplett umstellen. Ich kann verschiedene Erfahrungen aus verschiedenen Ligen in die Mannschaft bringen.“
Seit zehn Jahren spielt Berger bereits im Ausland. Ihr Berater Dietmar Ness erinnert daran, dass der englische Nationaltrainer Phil Neville mal darüber nachdachte, Berger einzubürgern. Als der DFB davon hörte, erhielt die Teamplayerin die ersten Einladungen und debütierte im Dezember 2020 gegen Irland unter Martina Voss-Tecklenburg. Unter der ehemaligen Bundestrainerin reiste sie als Nummer drei zur EM 2022, als Nummer zwei zur WM 2023. In Australien blieb sie mit ihrer Verlobten Jessica Carter bis zum Finale, um die Stimmung aufzusaugen. Ihre Lebenspartnerin schrieb nun auf Instagram voller Stolz: „Thats my Fianceeee!!!!!!!!“ (Das ist meine Verlobte).
Präsenz und Coolness von Deutschlands Torfrau bügeln gerade so manche spielerische Unzulänglichkeit ihrer Vorderleute aus. Wobei auch die neue Nummer eins bisweilen ein Spiel mit dem Feuer betreibt. Gegen Sambia (4:1) verschuldete sie mit einem Fehlpass das Gegentor, gegen Kanada hätte sich das Missgeschick im 14. Länderspiel beinahe wiederholt. Ein Umstand, den Kapitänin Alexandra Popp am ZDF-Mikrofon nicht unerwähnt ließ, um letztlich aber das Meisterwerk in Marseille zu würdigen: „Wir haben eine Maschine im Tor. Und dass sie dann eiskalt den selber noch reinmacht – Chapeau, da ziehe ich meinen Hut vor.“