Berlin. In „Die Entblößten“ malt Marion Messina die Folgen eines entfesselten Kapitalismus aus – mit klaren Anklängen an die Gegenwart.
Frankreich in einer nicht sehr fernen und nicht sehr unrealistischen Zukunft: Facharzt-Termine lassen sich auf dem Schwarzmarkt kaufen; ein Sozialkredit-System nach chinesischem Vorbild wurde eingeführt; Preiserhöhungen zwingen den Großteil der Bevölkerung zu einer Sieben-Tage-Woche; Empfängerinnen von Arbeitslosenhilfe werden nach dem dritten abgelehnten Jobangebot in sogenannten Hedonismushäusern zu „Dienstleistungen im erotisch-sexuellen Bereich“ verpflichtet – aber Hauptsache, die Wirtschaft wächst und das Staatsoberhaupt ist weiblich!
Das ist die dystopische Welt des neuen Romans von Marion Messina. Die Autorin, die 2017 mit ihrem Erstlling „Fehlstart“ in der französischen Literaturwelt für Aufsehen sorgte, hält ihren Themen auch in „Die Entblößten“ die Treue: Die im Würgegriff von Kapitalismus, Technologie und Bürokratie immer unmenschlicher werdende französische Gesellschaft. Dabei sind die Verweise auf den Macronismus kaum zu übersehen: Beethovens „Ode an die Freude“, die Macron bei seiner Amtseinführung noch vor der „Marseillaise“ spielen ließ, hat die Präsidentin des Romans endgültig zur Nationalhymne erhoben. Genau wie ihr wirkliches Vorbild setzt sie auf Privatisierungen, Sozialkürzungen und einen vermeintlich ideologiefreien, technokratischen Politikstil.
Die Handlung ist dabei schnell erzählt: Ein Student aus einfachen Verhältnissen zündet sich vor dem Gebäude der Nationalversammlung an. Weil er in Paris keine bezahlbare Wohnung gefunden hatte, zog er zu einem Kommilitonen, wo er brutal vergewaltigt wurde. Die Täter stammen größtenteils aus den mächtigen und reichen Familien des Landes, und als ein Video der Vergewaltigung im Internet auftaucht, bricht in ganz Frankreich ein Aufstand aus. In diesen sind Paul und Sabrina, die beiden Protagonisten des Romans, auf unterschiedliche Weise verwickelt: Während Sabrina sich als alleinerziehende Grundschullehrerin vor allem um ihre Tochter sorgt, bricht Paul, der als Metzger in der Provinz eine Aussteigerexistenz führt, nach Paris auf.
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Welche tatsächlichen Ereignisse hier Pate gestanden haben, ist ebenfalls offensichtlich: Als Macron Ende 2018 aus Umweltschutzgründen höhere Benzinsteuern erheben wollte, löste das eine landesweite Protestwelle aus. Vorwiegend ländliche, auf das Auto angewiesene Demonstranten zogen dabei wöchentlich nach Paris und forderten neben geringeren Kraftstoffsteuern und höheren Löhnen auch eine Rücknahme der von der Regierung geplanten Reform zur Erhöhung des Rentenalters. Die gelben Warnwesten, die die Protestierenden dabei trugen, gaben der Bewegung ihren Namen. In die Geschichte eingegangen sind die Proteste nicht zuletzt aufgrund der äußersten Brutalität der Polizei und ihrer Gummigeschosse, die so manchen Demonstranten das Augenlicht kosteten.
Zwei Unzufriedene also inmitten eines aufkeimenden Aufstands – was nach Revolutionsromantik und Persönlichkeitsreifung klingt und allemal den Nährboden einer guten Geschichte ausmachen könnte, entpuppt sich jedoch in Wahrheit als Mogelpackung: Gerade als Sabrina und Paul so ausführlich beschrieben worden sind, dass man als Leser mit ihnen warm wird, ist der Roman auch schon wieder vorbei. Lässt man das antiklimaktische Ende eventuell noch als Ausdruck der Unmöglichkeit von Revolution ob eines allmächtigen Systems durchgehen, ist der über weite Strecken des Buches nicht vorhandene Plot hingegen nicht zu rechtfertigen. So sprachlich brillant und psychologisch präzise die Figuren und ihre entsprechenden Lebenswelten auch skizziert werden, so zufällig, zusammenhangslos und handlungsarm plätschert ihr Dasein dahin. Und weil die Autorin eher eine Gesellschaft beschreibt als eine Geschichte erzählt, ist das Buch auch mehr Pamphlet als Roman.
Als ein solches aber verdient es durchaus Aufmerksamkeit. Mit der gleichen kompromisslosen Zerstörungswut, die bereits ihrem ersten Roman das Lob der Kritiker eintrug, lässt Messina auch in ihrem zweiten Buch keinen Stein auf dem anderen der französischen Gegenwartsgesellschaft: „Die Läden gehören Franchise-Ketten, die Touristinnen sind hemmungslos vulgär und tragen Baskenmützen aus rosa Plüsch, um auf ,frenchie‘ zu machen, die Kneipenbetreiber machen keinen Hehl daraus, Tiefkühldreck aufzutauen, die Klamottenläden beschallen ihre Räumlichkeiten mit Musikkonserven, die Museen präsentieren Ausstellungen, die weder Hand noch Fuß haben, um zu zeigen, dass sie Wert darauf legen, Kunst von Frauen aus den Archiven auszugraben.“
Was die Autorin die „amerikanisch inspirierte, chinesisch verfertigte Dubaiisierung“ nennt, ist Ausdruck einer fundamentalen und regelrecht romantischen Kulturkritik, die sich weder mit den links-grünen Floskeln von Nachhaltigkeit und Diversität noch mit höheren Mindestlöhnen und Vermögenssteuern abspeisen lässt. Was sie kritisiert, ist eine entfremdete, scham-, stil- und herzlose „Welt von Hedonisten, die keine echten Freuden kannten, besessen von der praktischen Seite der Dinge und bereit, für einen Parkplatz die letzte Wiesenblume zu opfern.“
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Eine derartige, beinahe rousseauistische Entfremdungskritik findet sich auch bei Michel Houellebecq oder den Schriften des „Comité invisible“ und bringt das von vielen empfundene Sinnvakuum eines globalisierten Kapitalismus zur Sprache. Daraus politisches Kapital zu schlagen, scheint derzeit vor allem der Rechten zu gelingen.