Mysteriöse Orca-Angriffe im Mittelmeer geben Forschenden Rätsel auf: Zwei Thesen aufgestellt
Orcas attackieren plötzlich Segelboote im Mittelmeer. Die idyllische Bootsfahrt wird zum Albtraum, während Forschende nach Antworten suchen.
Madrid/Tarifa – Ein friedlicher Bootsausflug im Mittelmeer verwandelte sich für eine spanische Familie in Sekundenschnelle in einen Albtraum. Plötzlich umzingelten mehrere Orcas das Segelboot und rissen ein großes Stück des über zwei Meter langen Ruderblattes ab. Der Bootsbesitzer erzählte der spanischen Zeitung „El Mundo“: „Ich weiß nicht, ob diese Wale wirklich nur spielen wollten oder was auch immer, aber wenn man von einem acht Meter langen und mehrere Tonnen schweren Biest angegriffen wird, das seine Zähne in Aluminium versenken kann, bekommst du es mit der Angst zu tun“. Der geplante Familienurlaub auf dem Schiff endete abrupt, und die Angriffe hören nicht auf.
Am 24. Juli gab es den letzten größeren Vorfall vor der Küste von Tarifa an der Straße von Gibraltar. Das Segelboot „Bonhomme William“ sendete sofort ein Notsignal, doch als die spanischen Rettungskräfte eintrafen, war es bereits halb gesunken. Die drei Insassen – zwei Briten und ein Italiener – konnten rechtzeitig gerettet werden. „Die drei Geretteten sind wohlauf an Land gebracht, das Segelboot versinkt“, berichtete der spanische Seerettungsdienst auf dem Kurznachrichtendienst X.
Orca-Angriffe bis vor wenigen Jahren noch unbekannt – Seeleute schreien: „Boah, was ein Riesenvieh“
Bis vor wenigen Jahren waren solche Angriffe – Wissenschaftler bevorzugen den Begriff Interaktionen und gehen davon aus, dass die Orcas nicht aggressiv handeln – unbekannt. Die ersten Vorfälle wurden im Pandemiejahr 2020 gemeldet und oft auf Video festgehalten. Man hört die Schreie überraschter Seeleute: „Boah, was für ein Riesenvieh!“, „Du Drecksack!“ und „Er hat uns erwischt!“.
Die Orcas, die bis zu zehn Meter lang und über fünf Tonnen schwer sind, sind die größte Art der Delfinfamilie und seit der Filmreihe „Free Willy“ einem breiten Publikum bekannt. Sie ernähren sich von Thunfischen, Heringen, Robben, Pinguinen und Seevögeln und greifen auch Haie, Delfine und andere Wale an. Aber bis 2020 hatten sie es nicht auf Boote abgesehen. Nordsee-Segler wurden einst Teil eines Naturschauspiels.
„An der Straße von Gibraltar“: Mittelmeer von Orca-Angriffen besonders betroffen
Auch in diesem Jahr wurden mehrere Boote völlig zerstört. Verschiedene Maßnahmen der spanischen Behörden, wie Fahrverbote für kleinere Boote in bestimmten Meereszonen und GPS-Tracker, um Orcas zu orten und Kapitäne zu warnen, hatten bisher wenig Erfolg. Laut der Organisation „GT Atlantic Orca“ (GTAO) gab es dieses Jahr bis Ende Juni vor den Küsten von Spanien und Portugal 84 Interaktionen. Sechs Boote wurden so stark beschädigt, dass sie abgeschleppt werden mussten. Die Zahlen sind etwas höher als der Durchschnitt der Jahre 2021 bis 2023 im selben Zeitraum.
„Die meisten Begegnungen werden weiterhin an der Straße von Gibraltar oder in der Nähe registriert“, berichtet GTAO-Biologe Alfredo López der Deutschen Presse-Agentur. Das Gebiet zwischen Mittelmeer und Atlantik ist bei iberischen Orcas beliebt, weil dort eine ihrer Lieblingsspeisen, Thunfisch, reichlich vorkommt.
Das Phänomen erinnert an Frank Schätzings Bestseller „Der Schwarm“, in dem die Natur gegen die Menschheit rebelliert. Spanische Medien berichten von zunehmender Angst – insbesondere bei Besitzern von Luxusbooten, die sich nicht mehr aufs offene Meer wagen und ihre teuren Fahrzeuge oft nur noch im Jachthafen genießen. Immer mehr Segler und auch Fischer der Region fordern von den Behörden „Lösungen“ und auch Entschädigungen wegen entgangener Einnahmen.
Rätsel für Forschende wegen Orca-Attacken: Warum nur diese 16?
Die Vorfälle geben Forscher:innen Rätsel auf. Denn obwohl Orcas weltweit leben, zeigen bisher nur Tiere in der iberischen Region das mysteriöse Verhalten. Von den 34 dort registrierten Individuen interagieren nach Erkenntnissen von GTOA nur 16 mit den Booten. Soweit bekannt tun sie das fast immer gemeinsam in der Gruppe. Es seien drei Weibchen und 13 Jungtiere, erzählt López.
Warum nur diese 16? Warum nur in der Straße von Gibraltar und zum Teil auch im westlichen Mittelmeer, vor der Küste Portugals und weiter nördlich im Atlantik vor der Nordküste Spaniens und der Westküste Frankreichs? Forschende räumen ein, dass sie noch keine sicheren Antworten auf diese Fragen haben.
López hat zwei Thesen: Entweder haben die hochintelligenten Tiere einfach etwas Neues erfunden – ähnlich wie jene Orcas, die in den 1980er Jahren im Nordpazifik tote Lachse auf ihren Köpfen balancierten. „In der Gruppe ahmen sie dann einander nach“. Oder sie reagieren auf ein negatives Erlebnis, wie das Verfangen in einem Fischnetz oder eine Kollision mit einem Boot.
Auch Langeweile könnte möglicherweise eine Rolle spielen. In einer Studie vom Juni vermutet die Internationale Walfangkommission (IWC), dass Orcas Boote angreifen, weil es durch Fischereiverbote reichlich Thunfisch gibt. Da sie weniger Zeit mit Futtersuche verbrächten, hätten sie wohl mehr „Freizeit“ und „spielten“ mit den Schiffen, hieß es.
Klimawandel, Wasserverschmutzung, Schiffsverkehr: Sorge um das Wohl der Orcas
Wie sehr dieses Phänomen Segler, Behörden, Medien und Forschende beschäftigt, zeigen die vielen Studien und Aktionen – auch von Umweltschützern. Die spanische Organisation „Ecologistas en Acción“ startete im Juli mit einem Segelschiff und bis zu 60 sich abwechselnden Aktivisten und Forschenden eine monatelange Beobachtungsreise, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Im Vordergrund steht bei ihnen aber nicht die Sorge um Segler, sondern das Wohl der Orcas. Diese stünden auf der Roten Liste der gefährdeten Arten der Weltnaturschutzunion (IUCN) und würden insbesondere in der Straße von Gibraltar von Klimawandel, Wasserverschmutzung, dem zunehmenden Schiffsverkehr und Lärm bedroht, so die Organisation. Auch Menschen greifen Orcas körperlich an – es wurde ein „absolut idiotisches Verhalten“ kritisiert.
Tipps um Eskalationen mit Orcas zu vermeiden – Hoffnung auf Abebben des Problems
Einig sind sich alle Fachleute darin, man dürfe die Tiere nicht dämonisieren. Schlagzeilen wie „Aufstand der Orcas“ verzerrten die Realität, klagt López. Er hat den Eindruck, dass den Tieren von Schiffsbesatzungen, aber auch im Internet zunehmend Hass entgegengebracht wird. Videos zeigten, wie Bootsbesatzungen unter anderem mit Seenotraketen auf Orcas schießen.
Um eine Eskalation zu vermeiden, verweist der Spanier auf Informationen auf der Website seiner Organisation. Kapitäne sollten sich besser informieren, alternative Routen wählen, nicht nachts fahren und sich nicht allzu weit von der Küste entfernen.
Derweil existiert die Hoffnung, dass das Problem von selbst verschwinden könnte: Manche Fachleute vermuten nämlich eine vorübergehende Modeerscheinung, die jäh enden könnte – so wie das Lachs-Balancieren in den 1980er Jahren. López sieht Indizien dafür: „Im Vergleich zu 2023 geht die Zahl der Interaktionen dieses Jahr zurück.“ (ank mit dpa-Agentur-Material)