Olympia und die Freiheit
Paris 2024 war ein Schlag gegen alle Rassisten und Faschisten – nicht nur in Frankreich. Möge sich das bewahren bis zu den nächsten Spielen in Los Angeles.
Eigentlich erfüllten sich meine Erwartungen erst ganz zum Schluss. Mehr als zwei Wochen lang wurde ich Tag um Tag aufs Neue enttäuscht. Dann endlich, am Ende der Abschlussfeier, war es so weit: Ein Ausblick auf die nächsten Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles. Und das hieß: It’s showtime!
Ein malerisches Set am Pazifikstrand, menschenleer bis auf ein Häuflein ausgesuchter, jubelnder Statisten und Statistinnen, eine kleine Bühne, darauf der Herr Snoop Dog und weitere leidlich bekannte Musikanten und Musikantinnen, Sonne, Easy Living, Califonia Dreamin’.
Sogar einen Baywatch-Turm hatten sie aufgebaut, darauf eine Rettungsnixe im orangefarbenen Bikini, nicht spindeldürr und atombusig, sondern dem Zeitgeist entsprechend mollig wie Tante Gerhild am Baggersee bei Dorsten. Ich war begeistert. Endlich. So hatte ich mir die Olympischen Spiele vorgestellt. Eine Fake-Show, gekünstelt bis ins Detail, so wie das ganze Kommerzgebilde Olympia nun mal ist. Sie können’s halt, die Amis.
Und die Franzosen? Was haben die uns geboten? Auch eine Show. Aber anders. Obwohl die Vorzeichen bestens standen, meine düsteren Ahnungen zu bestätigen. Die Pariserinnen und Pariser maulten und moserten monatelang, überall wurde gesperrt, gebaut und gewerkelt, man befürchtete ein desaströses Chaos – doch dann geschah Wundersames.
Pünktlich zu Beginn der Spiele änderte sich die Stimmung, was mir mehrere Bekannte bestätigten, die seit Jahren dort wohnen. Als sei ein guter Geist durch die Stadt gefegt und habe den Menschen ein Lächeln ins Antlitz geschrieben.
Gleiches empfand ich bei den Fernsehübertragungen. Nie hätte ich gedacht, wegen Olympia sechzehn Tage lang nahezu pausenlos vor der Glotze zu verharren. Mich versöhnte allein schon die gottvolle Szene bei der Eröffnungsfeier, als Dragqueens, ein Transgender-Model und ein halbnackter Sänger da Vincis Gemälde „Das letzte Abendmahl“ nachstellten. Wonnig! Und das Gefühl, dass hier gerade Großes geschieht, setzte sich fort. Sicher, es war da auch Negatives. Etwa die widerliche Debatte um das Geschlecht einer algerischen Boxerin. Und dass das Pariser Publikum in den Stadien hauptsächlich aus weißen Wohlhabenden bestand, denn für die Leute aus den Banlieues waren die Karten unerschwinglich. Auch die Fahrpreise für die U-Bahn wurden massiv erhöht, und die Restaurants geizten nicht mit happigen Aufschlägen. Aber mon dieu, wir sind in Paris.
Dennoch: Es mag an der Zeit liegen, am Hunger vieler nach Frieden und Gerechtigkeit, eben nach Liberté, Egalité und Fraternité. Ich schließe mich da nicht aus. So geriet das Pariser Spektakel tatsächlich merklich in die Nähe des olympischen Gedankens, nämlich der Förderung von Freundschaft, Solidarität und gegenseitigem Verstehen aller Völker dieser Welt. Der Anspruch ist natürlich pathetisch, dennoch denke ich, dass dieses Ereignis ein Schlag in die Fresse aller Ausländerhasser, Rassisten und Faschisten war, nicht nur in Frankreich.
Möge sich das bewahren bis zu den nächsten Spielen in Los Angeles. Denn gerade in den USA wären Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bitter vonnöten. Und wenn die Amis wieder ihr unechtes Spektakel abziehen – sollen sie es tun, wenn sie das brauchen. Hauptsache, sie faken den Gedanken nicht kaputt.
Michael Herl ist Autor und Theatermacher.