August Drachs Vater ist ein Säufer und Schläger. Die Mutter ist voller Liebe und Zärtlichkeit, aber nur, wenn August krank ist. Bald kann sie ohne seine Krankheit nicht mehr sein. Valerie Fritsch erzählt in “Zitronen” großartig vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.
Die Geschichte von August Drach nimmt langsam Gestalt an, erst das Dorf, dann seine Mutter, schließlich der Vater. Das Dorf liegt in der österreichischen Provinz und ist voller unerzählter Dramen. Die Mutter Lilly ist ein bisschen verrückt und womöglich den “Geistern” auf den Flohmarktfotografien, die in der Küche hängen, näher als den Lebenden. Der Vater aber ist grausam, ein Säufer, der den Sohn gewohnheitsmäßig prügelt, beschämt und abwertet. “Dem Vater fiel er in die Hände, der Mutter in die ausgebreiteten Arme.”
Denn die Mutter hindert den Vater nicht am Schlagen, überschüttet den Sohn aber mit Zärtlichkeit und Liebe, wenn es vorbei ist. Doch in einer kühlen Nacht im Frühling verschwindet der Vater, nimmt nichts mit, geht lautlos und wohl ohne sich umzudrehen. Lilly und August, Mutter und Sohn, blühen auf, ohne den Tyrannen im Haus fehlt ihnen aber die Verbindung.
Das ändert sich, als August krank wird, hustet und fiebert, tagelang kann er das Bett nicht verlassen. Aufopferungsvoll pflegt ihn die Mutter, statt in ihre Welten abzudriften. Auch als er wieder gesund ist, kann sie von der Vorstellung, er sei weiter krank, nicht lassen. Es gibt heißen Tee, Apfelkompott und kleine Tabletten. August wird immer schwächer, er fühlt sich schwindelig und schläfrig. Lilly Drach erfindet für ihren Sohn eine lange zurückreichende Krankheitsgeschichte, zu der es anscheinend Arztbriefe, Untersuchungsberichte und Entlassungspapiere gibt.
Kein Name für das Ungeheuerliche
Bald wird August im Rollstuhl durch das Dorf geschoben, während seine Mutter mit dem Dorfarzt plötzlich überraschend vertraut umgeht. Statt den Sohn wie früher zu fragen, wen er mehr liebt, Vater oder Mutter, dringt die Mutter nun in ihn, während er hilflos im Bett liegt. Ist sie eine gute Mutter? August weiß, wie schon auf die vorherige Frage, keine Antwort.
Nach dem ersten Stocken beim Lesen, dem langsamen Begreifen, wird klar, was Valerie Fritsch in ihrem vierten Roman “Zitronen” beschreibt, ohne es beim Namen zu nennen. Es geht um das sogenannte Münchhausen-Stellvertretersyndrom, bei dem Eltern, ganz überwiegend Mütter, für ihre Kinder Krankheiten erfinden oder sogar verursachen. Anschließend übernehmen sie selbst die Rolle eines scheinbar liebe- und aufopferungsvoll Pflegenden.
Die Gewalt ereignet sich hinter verschlossenen Türen unter dem Mantel der Mutterliebe. Lilly Drach löffelt August Erde und Aspirin in den Tee, verabreicht Tabletten für schwere Fälle von Parkinson oder Migräne, die noch aus ihrer Zeit als Pflegerin stammen. August kann kaum zur Schule gehen, bis der Blitz in sein Leben einschlägt und sich sein Leben wieder komplett wandelt.
Gewaltige Zerstörung
Er zieht ohne Abschluss schließlich in die Stadt, unterstützt vom zum Stiefvater gewordenen Dorfarzt, immer bereit, zu lügen und zu betrügen. August merkt es vielleicht nicht einmal, wie soll er auch. Er hat womöglich nicht gelernt, wie lieben geht. Das wird sich in seinem Erwachsenenleben zeigen, in das der Roman weit hineinragt.
Fritsch hat für ihren 186-Seiten-Roman eine wissende Erzählerstimme gefunden, die August Drachs Leiden begleitet, beinahe ohne es zu bewerten. Der Vater ist, wie er ist, ebenso die Mutter, das Leid des Kindes geschieht beinahe ungesehen. Und als es gesehen wird, dauert es noch eine ganze Weile, bis Rettung kommt oder wenigstens Entrinnen für eine Weile.
Die Gewalt, die August erlebt, entfaltet sich im Kleinen, Banalen und verrichtet dennoch ihre Zerstörung. Fritsch beschreibt Abläufe in einer ebenso poetischen wie irritierenden Sprache, wenn sich mitten in die Schilderungen bewertende Sätze mischen. Sie scheinen in dem Text unterzugehen, bis man eine halbe Seite später merkt, welche Ungeheuerlichkeiten sich in diesen zwei Sätzen verbarg. Es sind Sätze wie: “Gewalt und Liebe heben einander nicht auf.” Oder: “Alles wich von sich selbst ab.” Oder: “Immer gibt es einen, der zuschaut.”
Am Ende setzt sie einen Schlusspunkt, der einem fast den Atem raubt. Ein großartiger Roman, der seine Figuren gleichzeitig seziert und zusammensetzt.