Nach Gold im Einer überwältigen Ruderer Oliver Zeidler die Emotionen. Mit seinem überlegenen Sieg befreit er sich von einem Olympia-Trauma.
Es gibt Momente, in denen vergisst ein Sportler, was um ihn herumpassiert. Er ist ganz bei sich, allein mit seinen Emotionen. Als Oliver Zeidler beim olympischen Einer-Finale das Ziel erreichte, mit fast zwei Bootslängen Vorsprung vor der Konkurrenz, riss er sich seine Kappe vom Kopf und sank erst einmal in sich zusammen. Die ersten Tränen kullerten. Ein paar Sekunden verharrte er in dieser Position. Nicht vor Erschöpfung, denn so ein Olympiasieg kann Kräfte freisetzen. “Ich habe das Finale genossen und es ist wie im Traum vergangen”, sagte er später. “Es war ein Rennen für die Ewigkeit.”
Kurz darauf küsste er das Armband, das ihm seine Freundin geschenkt hatte, und ruderte schon wieder los. Aber statt an den Steg, wie es das olympische Protokoll vorsieht, begab er sich noch einmal auf die Strecke, mit kräftigen Schlägen, so als hätte er nicht gerade schon 2000 Meter hinter sich gehabt. Vor der Tribüne ließ er sich feiern, von den Fans, und seiner Familie, mit Tränen in den Augen. Erst danach legte er das Skiff wie vorgegeben an.
“Rennen für die Ewigkeit”
Die Energie war aber immer noch nicht aufgebraucht. Kaum hatte er festen Boden unter den Füßen, sprintete er los. Über den Steg, an der Pressetribüne vorbei, direkt in die Arme seiner Freundin. Sofia Meakin ist auch Ruderin, gehörte zum Schweizer Doppelvierer-Team in Paris. Minutenlang hielten sich die beiden in den Armen. Sie sei, sagte Zeidler später noch immer gerührt, “eine große, große Unterstützung” gewesen, nicht nur hier in Paris. Sie habe ihm auch im vergangenen Jahr “ein bisschen die Leichtigkeit gegeben, die mir manchmal gefehlt hat.” Im Überschwang schickte er gleich eine Liebeserklärung hinterher. “Sie macht mich einfach glücklich.”
Zeidler ist keiner, der zu großen Gefühlsausbrüchen neigt, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Selbst bei seinen drei Weltmeistertiteln ließ er sich zu keinen ungewöhnlichen Gesten oder Siegerposen hinreißen. Aber diese Goldmedaille, die erste für einen deutschen Einer seit Thomas Langes Triumph in Barcelona 1992, ist eben “etwas Besonderes”, wie er feststellte. “Denn Olympiasieger sind etwas für die Ewigkeit.”
Es gibt jedoch noch ein paar mehr Gründe, warum der Triumph im Stade Nautique von Paris so viele Emotionen hervorbrachte. 2016 verpasste Zeidler als Schwimmer die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro und beendete daraufhin seine Karriere. Aber ganz ohne Sport ging es nicht, also setzte er sich manchmal auf den Ruder-Ergometer, der im Keller stand. Rudern spielte in der Familie seit jeher eine große Rolle. Großvater Hans-Johann Färber war Olympiasieger, Vater Heino ruderte, die Tante ebenfalls, und auch die Schwester.
Und nun, fand plötzlich auch Oliver Gefallen am Rudern, zumal der Vater schnell das Talent erkannte. Zeidler startete Anfang 2017 seine zweite Karriere. Nicht einmal eineinhalb Jahre später gewann er seinen ersten Weltcup, 2019 folgte der erste WM-Titel. Technische Defizite konnte er lange Zeit mit seiner Physis, seinem Gefühl fürs Wasser wettmachen.
Das Trauma von Tokio
Dann kamen die Olympische Spiele 2021 in Tokio. Er ging als Favorit ins Rennen und schied im Halbfinale aus, gescheitert an den widrigen Bedingungen, der fehlenden Erfahrung und auch ein bisschen an der Technik. Das, gab er später zu, habe etwas mit ihm gemacht. Zeidler dachte ans Aufhören, “weil es mir so zugesetzt hat”.
Dann überlegte er es sich doch anders, ließ sich die Olympischen Ringe in den Nacken tätowieren und nahm einen neuen Anlauf. Drei Jahre, in denen das Olympia-Trauma von Tokio irgendwie immer im Kopf rumschwirrte. Drei Jahre aber auch, in denen er die Konkurrenz dominierte, mit einer Ausnahme, der EM in München. Auf seiner Hausstrecke hatte er eine Familientradition fortschreiben wollen, 50 Jahre davor war sein Großvater dort im Doppelvierer Olympiasieger geworden, aber er verpasste sogar eine Medaille.
Es war der letzte Rückschlag, denn der zweite Platz im Weltcup in Luzern Ende Mai, die einzige Niederlage in den vergangen zwei Jahren, sah Zeidler vielmehr als wichtigen Fingerzeig für Olympia. “Das hat mir sehr geholfen, das hat komplett den Druck rausgenommen.”
“Wir sind cool geblieben”
In Paris hat ihn nichts vom Weg zum Gold abbringen können. Jeden seiner vier Läufe im Stade Nautique in dieser Woche gewann er überlegen, im Halbfinale stellte er sogar eine olympische Bestzeit auf. Dass das Finale am Samstag um eine Stunde verschoben werden musste, weil der Bus mit dem späteren Silbermedaillen-Gewinner Solotoi aus Belarus auf dem Weg vom Olympischen Dorf zur Ruderstrecke im Osten der Stadt einem Motorschaden hatte, störte ihn in seiner Vorbereitung nicht.
“Wir hatten alle ein gutes Gefühl diesen Morgen, deshalb hat uns das auch die Laune nicht verderben können. Wir sind cool geblieben.” Wir, das sind er und sein Vater Heino, der hier in Paris nicht wie sonst üblich mit dem Rad neben der Strecke herfahren durfte und deshalb das Rennen ganz ungewohnt im Ziel verfolgen musste.
Zeidler hat sich nach 1000 Metern die Konkurrenz schon deutlich hinter sich gelassen. “Da habe ich gewusst, das wird heute mein Tag.” Und es sollte nicht der letzte olympische Gold-Tag gewesen sein. “Ich habe Lust auf mehr”, sagte Zeidler. In vier Jahren in Los Angeles noch einmal Olympiasieger werden, “das wäre eine Sache, um endgültig in die Geschichtsbücher einzutragen”.