Berlin. „Tatami“, der erste Spielfilm unter israelisch-iranischer Ko-Regie – über eine Sportlerin, die der eigene Staat unter Druck setzt.
Beim Sport geht es ums Gewinnen. Natürlich geht es auch ums Dabeisein. Und um sportliche Fairness. Aber vor allem anderen ist da die Hoffnung auf den Sieg, auf eine Medaille. Spitzensportler werden dabei von ihrem ganzen Kader, ihrem Land unterstützt und getragen. Oder nicht?
Von Sportsgeist ist in „Tatami“ nichts zu finden
Im Film „Tatami“, der diese Woche in die deutschen Kinos kommt, geht es um eine Judo-Weltmeisterschaft, in der der Iran erstmals Chancen hat, eine Goldmedaille zu gewinnen. Doch als klar wird, dass die Favoritin dabei auf eine Konkurrentin aus Israel treffen könnte, wollen die Mullahs das, aus Angst vor einer Niederlage gegen das Land, das sie als ihren Erzfeind betrachten, mit aller Macht verhindern.
Erst setzen sie nur die Trainerin unter Druck, dann auch die Sportlerin selbst. Und neben dem eigentlichen Wettkampf findet noch ein ganz anderer, weit kräftezehrender Kampf statt: den um das Gewissen. Aufgeben oder weitermachen? Auch wenn man damit das Leben anderer, Nahestehender gefährdet.
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Der Film von Guy Nattiv und Zar Amir Ebrahimi ist in düsterem Schwarzweiß und im einst klassischen aber längst aus der Mode gekommenem, engem 4:3-Bildformat aufgenommen, was von Anfang an eine Atmosphäre der Beklemmung und Bedrohung schafft. Wie auch die bedeutungsschweren Blicke, die die strenge Trainerin Maryam Ghanbari (Zar Amir Ebrahim) ihrer Judoka-Favoritin Leila Hosseini (Arienne Mandi) zuwirft.
Schon anfangs, als das iranische Team im Bus nach Tiflis fährt, wo die Judo-Weltmeisterschaften ausgetragen werden. Und Leila sich noch mit Kopfhörern und iranischer Rap-Musik abschottet. Erst recht aber beim Aufwärmtraining, als Leila sich mit der israelischen Konkurrentin Shani Lavi (Lir Katz) austauscht. Ein solcher, auch noch freundschaftlicher Austausch aber ist alles andere als gewollt.
Erst wird die Trainerin unter Druck gesetzt, dann auch die Sportlerin
Eine Weile ist „Tatami“ dann vor allem das Drama der Trainerin. Während ihr Schützling sich auf der Matte bewährt, ist sie es, die Anrufe erhält von iranischen Hintermännern, die ein Aufgeben erst erbitten und dann auch fordern. Anfangs behält Maryam das noch für sich. Und ringt mit sich selbst. Zwischen Stolz auf ihren Schützling und Verzweiflung ob der Lage.
Dabei wird klar, dass auch sie einst eine aktive Judoka war, die ihre Profikarriere auf diese Weise, mit einer simulierten Verletzung, beenden musste. Und für ihren Gehorsam mit dem Posten der Nationaltrainerin belohnt wurde. Der Druck der Behörden wird indes immer stärker, schließlich ruft auch die eigene Mutter Maryam und schämt sich für das Verhalten der Tochter. Weshalb die Trainerin bald einknickt. Und nun den Druck weitergibt und Leila zur Aufgabe zwingen will.
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Die scheint die Wut darüber nur immer weiter anzutreiben. Aber bald erhält auch sie Anrufe. Muss erfahren, dass iranische Polizeieinheiten ihr Haus gestürmt und ihre Eltern verhaftet haben. Ihr Mann aber, der in Teheran bei Freunden die WM live im Fernsehen verfolgt, unterstützt, ja bestärkt sie, nur jetzt nicht aufzugeben. Und begibt sich noch in der Nacht mit ihrem kleinen, gemeinsamen Kind auf die Flucht.
Der Film erzeugt eine Spannung, die teils kaum zu ertragen ist
Der Film gewährt nur wenige Atempausen. Mit Rückblenden, die das Eheleben der Hosseinis zeigen, ein junges, modernes, offenes Paar. Wobei auch absurde Details offenbart werden. Wie jenes, dass Leila als Frau die Erlaubnis ihres Mannes braucht, um für die WM ins Ausland reisen zu dürfen. Der Großteil des Films aber spielt ausschließlich in der Sporthalle, auf den Matten – die mit jedem Reisstroh gefüllt sind, die dem Film den Titel geben – und dem Backstagebereich, zu dem sich Vertreter der iranischen Botschaft unerlaubt Zutritt verschaffen, um die Frauen unter Druck zu setzen und offen zu bedrohen.
Das ist hochintensiv inszeniert, mit einer Spannung, die manchmal kaum zu ertragen ist. Das ist auch ein Verdienst der kongenialen Arbeit des Kameramanns Todd Martin. Schon die Judo-Kämpfe inszeniert er so, als ob der Zuschauer bei den Zweikämpfen als unsichtbarer Dritter mit drin steckt und ebenfalls in den Würgegriff genommen wird.
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Erst recht gilt das für das Drama hinter den Kulissen. Wie Leila unter dieser Anspannung überhaupt noch antreten kann, ist kaum zu glauben. Sie mag sich nicht einmal dem Sportverband anvertrauen, der das Drama hinter der Matte schließlich mitbekommt. Und steht vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens, das auch Auswirkungen auf ihr direktes Umfeld haben wird. Längst geht es nicht mehr um einen Sieg. Es ist ein Kampf für Freiheit und Würde.
Ein gemeinsames Statement für „die Kunst als Stimme der Vernunft“
Regie führten der Israeli Guy Nattiv und die Iranerin Zar Amir Ebrahimi. „Tatami“ ist damit der erste Spielfilm, der je unter einer israelisch-iranischen Ko-Regie entstand. Ein wichtiges Zeichen, gerade in Zeiten des sich zuspitzenden Nahostkonflikts. Für Nattiv ist es bereits der sechste Film. Für seinen Kurzfilm „Skin“ erhielt er 2019 einen Oscar, sein bislang letzter Spielfilm, „Golda“, ein Drama über den Jom-Kippur-Krieg, mit Helen Mirren als titelgebende israelische Premierministerin Golda Meir, lief gerade erst in den deutschen Kinos.
Für Zar Amir Ebrahimi ist es dagegen die erste Regiearbeit, zu der sie auch eher zufällig kam. Nattiv hatte die israelische Schauspielerin, die im Exil in Paris lebt, in dem iran-kritischen Drama „Holy Spider“ gesehen, für den sie in Cannes vor zwei Jahren, als erste Iranerin, als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Nattiv hatte da gerade, noch vor den „Frauen Leben Freiheit“-Protesten im Iran, mit der ebenfalls in Paris im Exil lebenden Elham Erfani ein Drehbuch entwickelt, das gleich mehrere Fälle verarbeitete, in denen iranische Sportler und Sportlerinnen unter Druck gesetzt wurden.
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Für die Rolle der Trainerin wollte er unbedingt Amir Ebrahimi. Aber dann hat diese auch beim Casting der Farsi-sprechenden Schauspieler geholfen – mit Ausnahme der iranisch-stämmigen Amerikanerin Ameri Mandi, bekannt aus der Serie „The L-Word: Generation Q“, die sich auch als Boxerin betätigt und bereits als Leila feststand. Dann kümmerte sich Amir Ebrahimi, so wie sie das auch schon bei „Holy Spider“ getan hatte, als Associate Producerin auch um weitere Details, die den Stoff authentischer machen sollten. Und schließlich bot Nattiv ihr die Ko-Regie an.
„Wir haben uns zwei Stunden von Tel Aviv und Teheran entfernt getroffen, im georgischen Tiflis, um die Geschichte mutiger iranischer Sportlerinnen zu erzählen, die ihr Leben für die Freiheit riskieren“, erklären die beiden Filmemacher in einem gemeinsamen Statement, in dem sie ihren Glauben beteuern, dass die Kunst die Stimme der Vernunft sei.
Am Ende geht es wieder in einen Wettkampf, aber in einem anderen Team
„Die Geschichte, die wir in diesem Film erzählen, ist die Geschichte von zu vielen Künstler:innen und Sportler:innen, die unter Druck gesetzt wurden, ihre Träume aufzugeben, manchmal gezwungen waren, aufgrund des Konflikts zwischen den Systemen und Regierungen ihre Heimatländer und ihre Lieben zu verlassen.“
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In ihrem Film trifft schließlich nicht nur eine Frau eine Entscheidung fürs Leben, sondern alle beide. Am Ende werden sie, ganz wie zu Anfang, wieder zu einem internationalen Wettkampf fahren. Aber diesmal treten sie nicht mehr für ein Land an. Sondern für ein „Team der Geflüchteten“.
Drama, Georgien/USA 2023, 104 min., von Guy Nattiv und Zar Amir Ebrahimi, mit Arienne Mandi, Zar Amir Ebrahimi, Jaime Ray Newman, Lir Katz, Ash Goldeh