Berlin. Ballon, Drohne oder doch Außerirdische? Rätselhafte Objekte am Himmel sorgen oft für Spekulationen. Ein Forscher fordert jetzt Maßnahmen.
Von einer Berliner Straßenansicht schwenkt die Handykamera plötzlich in den blauen Himmel. Die Aufnahme zoomt näher heran. Plötzlich taucht in einiger Entfernung ein rätselhaftes, seltsam schwebendes Objekt auf. Die Oberfläche reflektiert im Sonnenlicht, eine dünne Schnur scheint herunterzuhängen. Dann verschwindet das Flugobjekt hinter einer Laterne, der 13-Sekunden-Clip endet.
Die meisten Betrachter dürften von einem entwischten Heliumballon ausgehen. Auf der Internetplattform „Enigma Labs“ erhält das am 13. August 2023 hochgeladene Video immerhin einen mittelmäßigen „Score“ von 49. Auf einer Skala bis 100 bewertet ein Algorithmus für jedes Video, wie hoch die Treffsicherheit ist, dass es sich um ein unidentifiziertes Flugobjekt handelt, kurz: ein „Ufo“. Unter anderem fließe ein, so Enigma, wie wahrscheinlich ein Ereignis stattgefunden habe, wie offensichtlich eine Verwechslung sei, die Sichtbedingungen und wie anormal sich ein Flugobjekt verhalten habe.
Seit Ende 2022 können Nutzerinnen und Nutzer auf Enigma Labs eigene Videos von vermeintlich mysteriösen Sichtungen hochladen, mit Kommentaren versehen und von der künstlichen Intelligenz (KI) bewerten lassen. Seit Frühjahr vergangenen Jahres auch bequem mithilfe einer iPhone- App.
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Ufo-Sichtungen? Plattform geht von 1400 ungeklärten Fällen über Deutschland aus
Allein in Deutschland hätten Nutzer seitdem bereits 55 Ufo-Sichtungen direkt eingereicht, heißt es auf dem Portal. Drittanbieter-Quellen mitgerechnet, spricht die Plattform sogar von knapp 1400 erfassten Sichtungen in Deutschland. An der Spitze liegt Berlin mit 75 gemeldeten Fällen. Eine interaktive Karte zeigt die genauen „Fundorte“. Weltweit sollen es über 14.000 Sichtungen in 212 Regionen sein, die Nutzer direkt an die Plattform gemeldet hätten, heißt es.
Enigma Labs will damit „die größte abfragbare historische Datenbank für weltweite Ufo-Sichtungen“ sein. Ziel der Sammlung ist, die Sichtungen datenbasiert zu erforschen. Die Firma spricht dabei weniger gern von „Ufo“, da sofort ein Hauch von Science-Fiction und grünen Männchen mitschwingt. Genutzt wird stattdessen die auch unter Wissenschaftlern geläufige Abkürzung UAP, die für „unidentifizierte Luftphänomene“ steht. Die Gemeinde mit Faszination für das Unerklärliche scheint groß und treu, die Enigma-Nutzer diskutieren leidenschaftlich. Und sie können sogar Fanartikel bestellen: Sticker, Taschen und Basecaps mit der Aufschrift „Seen A UFO?“ (Ein UFO gesehen?).
„Mysteriös“ und „rotierend“: Videos mit viel Raum für Fantasie
Hinter dem Start-up Enigma stecken laut Medienberichten großzügige private Investoren aus den USA, die es bevorzugen, im Verborgenen zu bleiben. Die Firma soll unter anderem mit dem US-Verteidigungsministerium Pentagon zusammenarbeiten.
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Wer sich durch die zahllosen Sichtungsvideos klickt, stößt größtenteils auf Kurzclips, in denen sich am Tag- oder Nachthimmel winzige Objekte durch die Luft bewegen – alle lassen viel Raum für Interpretation und Fantasie. Die Augenzeugenberichte stützen sich gern auf Vokabeln wie „interessant“, „mysteriös“, „seltsam“ und die Sichtungen sind häufig „rotierend“ oder sie „bewegten sich auf unvorhersehbare Weise“.
Das Enigma-Video mit dem höchsten „Score“ (83) aus Columbia (USA) zeigt Nachtaufnahmen einer privaten Überwachungskamera. Davor scheint ein stabartiges Objekt unscharf hin und her zu schweben. Der verängstigte Augenzeuge geht „im Dunkeln nicht mehr allein aus dem Haus“. Mehrere Kommentatoren machen dagegen einen dünnen Faden vor der Linse aus. „Spinnweben und Käfer – nichts, wovor man sich fürchten muss.“ Die KI scheint anderer Meinung.
Der Bedarf zum gemeinsamen Austausch und wilden Spekulieren im Netz scheint jedenfalls gegeben. Was aber taugt so eine Plattform rund um Ufo-Sichtungen aus Sicht seriöser Experten?
„Ufo“-Sichtungen über Deutschland: Raumfahrt-Experte ordnet ein
„Ich finde es wünschenswert, als mögliche Ergänzung zu anderen Werkzeugen, die dazu beitragen können, Daten zu sammeln“, sagt Hakan Kayal gegenüber unserer Redaktion. Der Professor für Raumfahrttechnik ist Vorsitzender des Interdisziplinären Zentrums für Extraterrestrik an der Universität Würzburg. Normalerweise forschen Kayal und sein Team an Raumfahrttechnologie, bauen und betreiben Weltraumsatelliten. Darüber hinaus ist die fränkische Hochschule aber auch die einzige in Deutschland, die sich an ihrem Zentrum offiziell mit dem Thema Ufos beziehungsweise UAP beschäftigt.
„Viele Aufnahmen, die spontan mit dem Handy gemacht werden, sind natürlich unvorbereitet und dann häufig auch nicht von bester Qualität“, sagt Kayal. Oft komme es vor, dass Handybesitzer in ihren Aufnahmen erst später ein Objekt auffällig fänden, das sie im Moment der Aufnahme noch gar nicht gesehen hätten. Die rätselhaften Objekte seien auf solchen Aufnahmen oft unscharf, zu weit weg oder durch Bewegungen verwackelt. Bei auffälligen Sichtungen am Himmel, sagt Kayal, dürfe es sich in den meisten Fällen auch eher um privat geflogene Drohnen handeln als um geheime Spionagetechnik oder gar Ufos. „So eine App kann helfen, mehr Daten zu sammeln, aber sie ist kein Allheilmittel“, sagt der Würzburger Professor.
„Signaturen außerirdischen Lebens“: Professor fordert „ernsthaftere“ Ufo-Forschung
Wie eine wachsende Zahl an internationalen Wissenschaftlern, vor allem in den USA, spricht Kayal sich dafür aus, die Forschung rund um unbekannte Flugobjekte „ernsthafter“ voranzutreiben. Und sie auch in staatlichen Einrichtungen wie der Politik ernster zu nehmen. „Ich bin absolut der Meinung, dass die Sichtungen der letzten 75, 80 Jahre das Potenzial bieten, dass wir etwas Neues entdecken“, sagt Kayal, „unabhängig davon, was es ist.“
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Es könnten durchaus geheim gehaltene Technologien oder neue Naturphänomene dahinterstecken. „Aber es könnten tatsächlich auch Signaturen von außerirdischem Leben sein.“ Wissenschaftler müssten solche Phänomene unvoreingenommen fundiert untersuchen. „Das wurde in den letzten acht Jahrzehnten aufgrund der Stigmatisierung allerdings versäumt.“ Kayal hofft, mit der Universität Würzburg eine Vorreiterrolle einzunehmen.
Sein Institut arbeitet schon länger an spezialisierten Sensorsystemen und hält dauerhaft Ausschau nach Auffälligkeiten am Himmel. „Die große Mehrheit der Sichtungen sind natürliche Phänomene beziehungsweise Objekte“, erklärt Kayal. Der Forscher spricht dennoch von einer „sehr kleinen Zahl an Ausnahmefällen“ weltweit, bei denen sich eine genaue Untersuchung lohnen könne. „So eine Handy-App allein, genügt dafür natürlich nicht“, sagt Kayal. Woran es der Ufo-Forschung fehle, sei am Ende etwas ganz Irdisches: Forschungsgelder und Fördermittel.